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Journalismus Vom Suchen zum Lernen

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Schlagworte: Jonathan StrayJournalismusJournalismustheorieLernenMedientheorie

Vor einigen Tagen fand ich einen spannenden Beitrag von Jonathan Stray über Journalismus als redaktionelle Suchmaschine. Darin entwirft er Journalismus als ein System, um über die Welt zu lernen.

Jonathan Stray, Redakteur bei der Nachrichtenagentur AP, argumentiert für eine deutlich verstärkte Wegweiserfunktion des Journalismus. Er sei noch zu sehr darauf  konzentriert, eigene Geschichten zu erzählen, was angesichts der Informationsfülle heute jedoch nicht mehr ausreiche. Vielmehr benötige man einen Hybrid-Journalismus aus redaktioneller und algorithmischer Nachrichten-Aggregation, durchgeführt von Journalisten-Programmierern. Dazu eine Reihe von Gedanken und Weiterführungen.

Das Wort „Write“ in verschiedenen Größen
Schreiben, schreiben, schreiben – verliert der Journalismus durch seine Schreiblust seine Wegweiserfunktion aus den Augen?

Lizenz: WRITE von Karin Dalziel, CC BY

Ethik der Auswahl

Was dem aktuellen Journalismus in weiten Teilen heute noch fehlt, um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Art „Ethik der Auswahl“ – von Stray auf die simple Formel „Other people's content is content too“ gebracht:  

It’s very hard for the culture of professional journalism to accept this idea, the idea that they should leverage other people’s work as far as they possibly can for as cheap as they can possibly get it, because many journalists and publishers feel burned by aggregation. But aggregation is incredibly useful, while the feelings and job descriptions of newsroom personnel are irrelevant to the consumer. As Sun Microsystems founder Bill Joy put it, “no matter who you are, most of the smartest people work for someone else,” and the idea that a single newsroom can produce the world’s best content on every topic is a damaging myth.
Jonathan Stray

Noch immer erhält man den Eindruck von Link-Vereinbarungen in den Redaktionen, getrieben von falsch verstandener SEO, die möglichst wenige Links auf externe Angebote setzen möchten, schon gar nicht auf diejenigen der Konkurrenz. Dabei ist „Konkurrenz“ ein Wort, das zwar in ökonomischen Zusammenhängen wichtig sein mag, aus journalistischer Sicht meines Erachtens nach aber keine Daseinsberechtigung hat – nicht nur aus idealistischer Sicht, sondern schon rein praktisch gedacht: Wenn ein Nutzer nicht bleiben möchte, wird er das nicht tun, und keine „Bloß-keine-Links-nach-draußen“-Vereinbarung der Welt wird ihn in seinem eigenen Browser einsperren.

Aus meiner Sicht bleiben daher nur zwei Möglichkeiten:

  1. Der Nutzer schaut sich den eigenen Content an, geht dann woanders hin und entdeckt, dass der andere Content auch gut ist.
  2. Der Nutzer schaut sich den eigenen Content an, geht dann woanders hin und entdeckt, dass der andere Content auch gut ist – weiß dabei aber in jeder Sekunde, wie er ihn gefunden hat und wird vielleicht in Zukunft wieder daran denken.

Welche Möglichkeit einem lieber ist, darf nun jede und jeder für sich selbst entscheiden. Ich selbst habe schon meine Nutzung beliebter Nachrichtenseiten dauerhaft eingeschränkt, weil sie mich zu sehr damit geärgert haben, dass ich die referenzierte, aber nicht verlinkte Quelle mühsam selbst suchen musste.

Der Verlust von Rivva: Wo ist der Wegweiser?

Seit dem Wegfallen von Rivva existiert eine gewaltige Lücke in der deutschen Blogosphäre, die es mir erschwert, interessante Themen zu finden. Wenn nun ein Angebot mir wiederholt sinnvolle Inhalte auf den Schirm spült, die ich sonst niemals gefunden hätte, und sich idealerweise auch noch über verschiedene RSS-Feeds flexibel an meine Interessen anpassen lässt – warum sollte sich so etwas nicht vermarkten lassen? Und ist nicht gerade diese Übersicht nicht nur praktischer Pluspunkt, sondern fester Bestandteil des journalistischen Berufsethos?

Dass sich ein konsequent gelebtes Wegweiser-Dasein aus journalistischer Sicht auch ganz praktisch auswirken kann, zeigt Andy Carvins großartige Twitter-Recherche zur Frage, ob im Libyen-Konflikt wirklich israelische Waffen zum Einsatz kommen. Andy Carvin hat hier gemeinsam mit einigen seiner Followern Indizien gesammelt, die zweifelhaft scheinen lassen,  was zuvor als gesichert behauptet wurde – eine kollaborative Recherche, wie er sie niemals alleine mit vergleichbarem Aufwand hätte anstellen können. Meine These ist, dass er nur daher so viel freiwillige Unterstützung für sein Vorhaben gewinnen konnte, weil er sich seit Wochen als wertvoller Informationsverteiler und -beurteiler für die Vorgänge in der arabischen Welt ausgezeichnet hat.

Journalismus als Lernen über die Welt

Am Ende seines Artikels verwendet Stray eine Formulierung, die bei mir gewissermaßen wie eine Bombe eingeschlagen ist – weil sie eine Idee nahelegt (durchaus auch aus Sicht meiner persönlichen Themenschwerpunkte bisher), auf die ich aber nie gekommen bin:  

What I am suggesting comes down to this: maybe a digital news product isn’t a collection of stories, but a system for learning about the world.
Jonathan Stray

Was mir daran gefällt, sind folgende Gedanken:

  • stete Neuorientierung: Was in Sprüchen wie „Man lernt nie aus“ oder Begriffen wie das „lebenslange Lernen“ mitschwingt, trifft auch auf den Journalismus zu – die Welt zu begreifen bedeutet stets, sich ständig neu zu orientieren und seine Annahmen angesichts neuer Erkenntnisse zu revidieren.
  • Fokus auf den Nutzer: Die Idee eines Journalismus als Lernsystem legt den Schwerpunkt auf den Nutzer – es ist nicht mehr nur der Journalist, der die Welt versteht und sein Wissen weitergeht, sondern es ist der Nutzer, der mit seinen Fragen und Interessen journalistische Produkte auswählt und nach Antworten sucht. Aus dieser Verschiebung des Fokus ergeben sich eine ganze Reihe spannender Fragen, etwa nach der richtigen Vermittlung der journalistischen Inhalte, die sonst gerne vernachlässigt werden.
  • Fokus auf den Prozess: Idealerweise würde das System „Journalismus“ ebenfalls während dieses Prozesses lernen. So wie ein Lehrer aus den Reaktionen seiner Schüler heraus Rückschlüsse für zukünftigen Unterricht ableitet, könnte auch der Journalismus seine Berichterstattung und deren Wirkungen überprüfen und aus den Erkenntnissen daraus einen besseren Journalismus schaffen.
  • Offenheit für mediale Darstellungsformen: Journalismus als Lernen zu begreifen bedeutet, sich die Frage zu stellen, auf welche Art und Weise ein Gegenstand idealerweise vermittelt werden sollte. Dadurch ergibt sich eine ganze Reihe spannender Experimentier- und Forschungsfelder, etwa die Frage nach der konkreten modalen Gestaltung eines Beitrags oder nach der idealen Darstellungsform. Zugleich vermeidet man damit naive Vorstellungen, seien es „Die Darstellungsform ist egal, jeder Gegenstand lässt sich gleich gut mit jedem Mittel vermitteln“ oder „Darstellungsform bzw. Medium x ist überlegen und muss daher Medium y retten“.

[via Medial Digital]